Kürzlich hat mich jemand gefragt, warum wir denn die Schweiz verlassen hätten und nach Ecuador gereist wären. «Wir wollten einfach nicht mehr so viel arbeiten und etwas mehr Zeit für andere Dinge haben, die uns wichtig sind …», begann ich zu antworten. Schon fiel mir mein Gesprächspartner lachend ins Wort: «Haha, weil du ja schon sooo lange gearbeitet hast!»

Naja, immerhin zwölf Jahre. Also noch nicht ganz 45 Jahre, wie es in unserer Gesellschaft vorgesehen wäre, aber meiner Meinung nach doch lange genug, um festzustellen, ob es wirklich das Leben ist, das wir uns wünschen.

Und sobald man merkt, dass es vielleicht nicht ganz das ist, was man gerne hätte, steht es einem frei, sich dagegen zu entscheiden. Wir dürfen das, du darfst das. Schliesslich musst ja du dein Leben leben und nicht jemand anders.

Vielleicht lebst du dein Leben im Moment schon genau so, wie du es perfekt findest. Vielleicht bist du auch kürzlich Mutter oder Vater geworden und dich beschleicht das Gefühl, dass du gerne mehr Zeit mit deinem eigenen Kind verbringen möchtest als deine Eltern oder die Erzieher im Hort. Vielleicht hast du auch einen Hund und tief in dir drin weisst du, dass er mehr verdient hat als eine morgendliche und abendliche Runde ums Haus, damit er pinkeln und kacken kann. Womöglich hast du auch ein Hobby, welchem du mehr Zeit widmen möchtest, oder eine Geschäftsidee, die du schon so lange umsetzen möchtest, wozu du aber abends nach der Arbeit und am Wochenende einfach zu müde bist.

Nicht ob, sondern wie!

Sobald du gerne etwas an deinem Leben ändern möchtest, solltest du das auch tun. Was auch immer du mit deinem Leben anstellen möchtest, frage dich nie, ob etwas möglich ist, sondern immer wie. Streiche die „Ob-Frage“ komplett aus deinem Kopf – sobald du von vornherein daran glaubst, dass etwas machbar ist, wirst du überrascht sein, wie viele Möglichkeiten du plötzlich erkennst.

Das Wichtigste an der ganzen Geschichte ist, eine Entscheidung zu treffen. Hast du die Entscheidung einmal getroffen, ist es auch nicht so wichtig, dass du schon bis ins letzte Detail weisst, wie du dein Ziel genau erreichen kannst. Gehe einfach den ersten Schritt in die gewünschte Richtung, auch, wenn du noch nicht weisst, wie der zweite Schritt aussehen wird. Sobald du den ersten Schritt gemacht hast, wirst du den zweiten Schritt erkennen. Und dann den dritten und den vierten.

Als Hobbypilot war ich öfter auch bei nicht ganz perfektem Flugwetter in der Luft. Ich mochte die Ungewissheit, beim Start nicht mit absoluter Sicherheit zu wissen, ob beispielsweise die Alpenpässe ins Tessin oder ins Wallis passierbar waren oder nicht.

Meile um Meile kann man sich dabei an die Pässe herantasten. Nur ein paar wenige Punkte sind zu beachten:

  1. Fliege nie in die Wolken ein. Vor allem nicht im Gebirge. Schon viele sind im Blindflug an den Felsen zerschellt.
  2. Wähle die Flugroute immer so, dass zu jedem Zeitpunkt eine Umkehrkurve möglich ist.
  3. Habe immer genügend Treibstoff im Tank, um einen Ausweichflugplatz zu erreichen, wenn du auf dem Zielflugplatz unerwarteterweise nicht landen kannst – aus welchen Gründen auch immer.

Im normalen Leben handhaben wir das genau gleich:

  1. Blindflug vermeiden: Bevor du dich richtig in die Scheisse reitest, halte einen Moment inne. Bewahre einen kühlen Kopf und wäge deine Optionen ab. Drehe im Zweifel um, dir fällt kein Zacken aus der Krone.
  2. Möglichkeit der Umkehrkurve sicherstellen: Wenn du dich für eine Richtung entschlossen hast, brenne nicht alle Brücken hinter dir ab. Solltest du versucht sein, den Mittelfinger zu zücken und alle zu verfluchen, verzichte lieber darauf. Vielleicht bereust du es, wenn die Wolkenbasis bedrohlich tief sinkt oder starker Schneefall einsetzt und du lieber wieder umdrehen möchtest.
  3. Treibstoffreserven: Pass auf, dass du nicht gleich ans Limit kommst, wenn du dein Ziel nicht auf direktem Weg erreichen kannst – weder mental noch finanziell.
Nähere dich deinem Ziel Schritt für Schritt. Wenn du nicht mehr weiterkommst, kannst du jederzeit umdrehen. Sein Leben so zu leben, wie es einem gefällt, heisst nicht, dass man sich unnötigen Risiken aussetzen muss. Würde ich auch nicht, dafür bin ich ein zu grosser Schisser.

Die gleiche Taktik habe ich auch angewandt, als ich meine Vollzeitstelle kündigte. Ich hatte den Wunsch, während unseren Reisen nach wie vor als Programmierer zu einem tieferen Pensum zu arbeiten, hatte aber damals noch keine Ahnung, wie das genau aussehen würde. Zum Zeitpunkt, zu welchem ich kündigte, hatte ich bloss einen Vertrag ausgehandelt, der auf drei Monate befristet war. Das war der erste Schritt zu meinem Ziel – ohne zu wissen, wie der zweite Schritt aussehen würde. Nach diesen ersten drei Monaten schlug ich vor, meinen Vertrag um weitere drei Monate zu verlängern. Dieser Vorschlag wurde begrüsst, mein Vertrag wurde verlängert – das war der zweite Schritt. Nach Ablauf dieser zweiten drei Monate bot ich an, künftig mit einem unbefristeten Vertrag im bisherigen Rahmen meine Dienste zu leisten. Dieser unbefristete Vertrag startet nun nächste Woche.

Etwas mehr als ein halbes Jahr nach meiner Kündigung bin ich also genau dort, wo ich sein wollte. Genau so gut hätte es auch sein können, dass es nicht klappt. Das wäre aber auch kein grosses Problem gewesen, weil wir jederzeit hätten zurückkehren können und wir reichlich Treibstoff für viele Umwege im Tank haben (wir haben quasi mehrere Betankungsflugzeuge im Schlepptau).

Das Leben ist zu kurz, um es nicht so zu leben, wie es dir gefällt.

Im Durchschnitt verweilen wir etwa 80 Jahre auf diesem Planeten. Das entspricht rund 30’000 Tagen. Gar nicht mal sooo viel.

Zeichnen wir ein Rechteck für jeden Tag, ist jedes einzelne klar erkennbar. Es ist nicht so, dass es so viele sind, dass sie zu einer grossen Wolke verschwimmen.

Zwei Zeilen entsprechen jeweils einem Jahr und ein Block einem Jahrzehnt. Schaltjahre habe ich ignoriert – die machen den Braten nicht fett. 😉

Jeden Tag, den du verschwendest und nicht mit Aktivitäten verbringst, die dir gefallen, könntest du in dieser Grafik ohne Probleme lokalisieren und durchstreichen.

Ein Tag besteht aus 24 Stunden. Wir können aber nicht 24 Stunden jeden Tages so nutzen, wie wir wollen. Viele Zeitabschnitte sind bereits im Voraus für bestimmte Tätigkeiten reserviert. Ein Drittel unseres Lebens bringen wir beispielsweise schlafend hinter uns und etwa zwei Stunden pro Tag benötigen wir für die Nahrungsaufnahme.

Betrachten wir jedes Rechteck als 24-Stunden-Abschnitt und teilen sie einigen vordefinierten Tätigkeiten zu, sieht das etwa so aus:

  • 10’000 Tage schlafen wir
  • 2’500 Tage essen wir
  • 500 Tage gehen wir zur Schule

Und etwa 4’000 Tage verbringen wir auf Arbeit, bis wir mit 65 Lenzen unseren wohlverdienten Ruhestand antreten dürfen. Bei diesen 4’000 Tagen habe ich allerdings nur die reine Arbeitszeit einkalkuliert – ausgehend von einer 42-Stunden-Woche und 5 Wochen Ferien pro Jahr. Würden wir beispielsweise den Zeitaufwand für den Arbeitsweg oder andere für die Arbeit nötige Aufwände einberechnen, wäre dieser Block noch deutlich grösser.

Nach diesen vier vordefinierten Bereichen bleiben etwa drei Blöcke übrig, über die wir frei verfügen können. Im Lebensabschnitt vor der Pensionierung, wo wir noch jung und knackig sind, allerdings nur etwa deren zwei.

Nicht zu vergessen ist auch, dass wir davon einen beträchtlichen Teil auch mit eher uninteressanten Aktivitäten wie Aufräumen, Einkäufen oder auf der Toilette oder unter der Dusche verbringen. Und viele dieser Stunden fallen auch auf die Zeit vor der Arbeit und nach Feierabend, die wir oft auch nicht für wirklich befriedigende Freizeitaktivitäten nutzen können, sondern eher brauchen, um uns nach dem anstrengenden Arbeitstag zu entspannen.

Ich weiss ja nicht, was dir durch den Kopf geht, wenn du so eine Grafik betrachtest. Für uns ist das aber nix! Wir wollen über möglichst viele dieser Rechtecke frei verfügen können. Und wir wollen möglichst viele davon mit einem grünen Haken versehen, weil wir es sinnvoll genutzt haben, und nicht rot durchstreichen, weil wir es verschwendet haben.

Arbeit soll ein Teil unseres Lebens bleiben. Sie ist wichtig und es macht Spass, etwas zu produzieren und seinen Beitrag zu leisten. Aber wir haben beschlossen, dass sie nicht so viele Rechtecke beschlagnahmen und andere sinnvolle und befriedigende Aktivitäten verdrängen darf.


Eine sehr interessante Sicht auf den Verlauf des Lebens zeigt auch Tim Urban in seinem Artikel «The Tail End», der mich zu diesem Beitrag inspiriert hat. Vor allem der letzte Abschnitt über seine Beziehung zu seinen Eltern und Schwestern regt schon zum Nachdenken an.

Meine Eltern sind jetzt auch in ihren Mitsechzigern wie Tims Eltern, als er den Artikel verfasste. Falls sie 80 Jahre alt werden und wir uns in den kommenden anderthalb Jahrzehnten gleich oft sehen wie in der letzten Dekade, seit ich zu Hause ausgezogen bin, dann ist mehr als 95% unserer gemeinsamen Zeit bereits verstrichen.

Nicht viel besser sieht es mit meinen beiden Schwestern aus. Obwohl wir alle drei erst etwa 30-jährig sind, bleibt uns weniger als 10% unserer gemeinsamen Zeit, wenn wir uns weiterhin nur etwa einmal im Monat treffen, wie es vor unserem Abflug nach Südamerika der Fall war.

Deswegen bin ich ganz froh, kehre ich auch bald aus Ecuador nach Europa zurück. Dann werde ich als Erstes meine Eltern und meine Schwestern besuchen und wahrscheinlich erst wieder zur Tür hinausgehen, wenn sie die Nase voll haben und mich davonjagen. 🙂